Esther-Mirjam de Boer: «Eigenverantwortung funktioniert nicht überall.»

Unternehmerin und FDP-Politikerin Esther-Mirjam de Boer (54) schränkt sich privat ein, um Ressourcen zu sparen. Sie ist überzeugt, dass der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen nicht mit Verzicht auf Lebensqualität einhergehen muss – und Eigenverantwortung leider beschränkt funktioniert.

A woman dressed in black, sitting in stol on Polestar future talk
Wir wissen, was zu tun wäre, aber wir tun es aus politischen Gründen nicht.
Esther-Mirjam de Boer, Unternehmerin und Politikerin

«Die Frage nach den gemeinsamen Werten in unserer Gesellschaft hat mich in die Politik getrieben», sagt Esther-Mirjam de Boer am zweiten Future Talk im Polestar Space in Zürich. Das Thema des Abends lautet «Weniger ist mehr – ist das die Formel unserer Zeit?» Diskutiert werden Ideen, in welche Richtung sich unsere Gesellschaft entwickeln könnte – gerade jetzt, wo ein Leben im Überfluss durch Krieg und Wirtschaftskrisen nicht mehr selbstverständlich ist.

Fakten statt Vermutungen

«Wir wissen, was zu tun wäre, aber wir tun es aus politischen Gründen nicht», sagt de Boer, und ergänzt: «Ich ringe darum, mehr wissenschaftliche Vernunft in die politische Diskussion einzubringen.» Als Verwaltungsrätin und Unternehmerin müsse sie fakten- und wissensbasiert wirtschaften und nicht aufgrund von Gefühlen und Meinungen.

Auch deshalb passt de Boer nicht ins gängige Links-Rechts-Schema: Sie plädiert für weniger parteipolitisches Denken und möchte dafür «vermehrt vielfältige, geeignete Fachleute in die Politik holen, statt solche, die bloss genug Ehrgeiz und Mittel für eine gute Kampagne haben.»

Future Talk with Esther Mirjam
Würden Achtlosigkeit und Rücksichtslosigkeit etwas kosten, wären wir ein gutes Stück weiter.
Esther-Mirjam de Boer, Unternehmerin und Politikerin

Achtlosigkeit und Rücksichtslosigkeit sollten kosten

So hält sie gewisse staatliche Eingriffe für notwendig, denn Eigenverantwortung funktioniere längst nicht immer: «Gute Ökonominnen und Ökonomen wissen das.» Auch der Preismechanismus sei ein wirksames Steuerungsmittel. Als Beispiel nennt sie die Miet-E-Scooter, die von vielen nach dem Gebrauch achtlos weggeworfen werden und in der ganzen Stadt herumliegen. Dabei wäre es ganz einfach: Mit Sensoren könnte man sicherstellen, dass diejenigen zur Kasse gebeten werden, die den Schaden angerichtet haben. «Würden Achtlosigkeit und Rücksichtslosigkeit etwas kosten, wären wir ein gutes Stück weiter», ist de Boer überzeugt.

Falsche Anreize sorgten auch für Absurditäten: «Wenn wir zum Beispiel krank sind und Pflege brauchen, steigern wir automatisch das Bruttoinlandprodukt, indem wir Leistungen von Ärzteschaft und Pflege in Anspruch nehmen.» Da läuft in ihren Augen etwas «grundfalsch».

Warmer Bademantel, weniger duschen

De Boer ist für einen konsequenten Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas. Auch mit erneuerbarer Energie sei Wohlstand und Lebensqualität möglich, ist sie überzeugt. Privat hat sie sich eingeschränkt, die Heizung etwas runtergeschraubt und zieht sich ihren Bademantel aus Fleece über zum Fernsehschauen. Auch bei Lebensmitteln gibt es für Esther-Mirjam de Boer eine klare Grenze: «Wenn ich im Supermarkt im Winter Heidelbeeren aus Chile sehe, die mit dem Flugzeug hierherkommen, dann sage ich ‹Nein danke!› – auch wenn mein Partner die sehr gerne mag.» 

Sie sagt das nicht verbissen, sondern mit einem Augenzwinkern. Sie diskutiert lebhaft, mit Schalk und viel Lachen, etwa wenn sie erzählt, sie möge dem Ratschlag der Schweizer Energiesparkampagne nicht folgen, eine Minute kürzer zu duschen. Sie glaube – ganz nach dem Motto des Abends –  an weniger: «Ich nehme lieber pro Woche einmal Duschen und zweimal Haare waschen inklusive Föhnen aus meinem System. Das spart mehr Strom. Wir wurden als Kinder auch nur ein-, zweimal in der Woche gebadet, für den Rest hatten wir einen Waschlappen.»

Weniger Besitz, mehr Erlebnisse

Esther-Mirjam de Boer schaut optimistisch in die Zukunft, nicht zuletzt, weil sie Vertrauen hat in die junge Generation, die eine neue Denkweise habe: «Wenn ich meine Tochter anschaue, fällt mir das auf. Zu Weihnachten wünschte sie sich nichts, ausser, dass ich unsere Wohnung radikal ausmisten soll. Sie fand, wir hätten zu viele Sachen. Das machten wir eine Woche lang. Vielleicht ist das der richtige Ansatz: Wir brauchen nicht mehr physischen Besitz, sondern mehr gemeinsame Erlebnisse.»

Lies hier nach, welche Argumente unser zweiter Talkgast, Alan Frei, zu diesem Thema hatte. 

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